Der kostbare Stein

(undatiert, um 1970)


Ein juger Bursche hatte so viele Sorgen und Leid, daß er weder ein noch aus wußte und des Lebens überdrüssig wurde. Mit schwerem Herzen nahm er einen Strick und ging in den Wald.

Auf seinem Weg aber traf er einen alten Hirten, der seinen Schafen zuschaute und aufpasste, das keines verloren ging. Als der Alte den Burschen sah, nahm er ihn bei der Hand und ließ ihn niedersitzen. Er reichte ihm Brot und Wein und fing an zu erzählen:

"Es war einmal ein Vater, der hatte drei Söhne. Und als er sah, daß er sie zu Hause nicht mehr halten konnte, versammelte er sie und sprach:

'Meine Söhne! Ich weiß, ihr seid jung und wollt hinaus in die Welt, und halten will ich euch nicht. Ich gebe euch meinen Segen. Doch die Fremde ist weit und gefährlich. Auf euren Wegen lauert der Böse. Er legt Schlingen und will euch verführen. Drum gebt acht! Jedem von euch gebe ich einen Stein von unabschätzbarem Wert. Dieses anvertraute Gut behaltet vor Dieben im Auge, hegt und pflegt ihn, denn ihr wißt, daß er eures Vaters ist. Und wenn ihr einmal des Lebens in der Welt überdrüssig seid, bringt ihr ihn zu eurem Vaterhaus zurück. Und dann wird sich zeigen, ob ihr würdig seid, diesen kostbaren Stein zu empfangen. Nun geht in Gottes Namen und macht eurem Vater keine Schande!'

Damit entließ er sie, und die drei zogen davon. Schon sehr bald mussten sie einsehen, daß das Leben doch hart ist und es nicht so einfach war, seinen Mann zu stehen. Zwei der Söhne, Klaus und Heinrich, dienten sich jeweils einem Fürsten an, die ihnen gewogen waren, und so hatten sie ein Auskommen. Doch dann zogen beide Fürsten gegeneinander in den Krieg, und die beíden Brüder dienten ihren Herren jeweils als Soldaten.

Auf dem Schlachtfeld ging es heiß her, die Degen klirrten, und ehe sich Klaus umsah, hatte er einen Pfeil in der Brust und sank von seinem Pferd. Als Heinrich das sah, kämpfte er sich durch die tobenden Reihen und erreichte noch den sterbenden Bruder. Der reichte ihm den kostbaren Stein. 'Ich kann den anvertrauten Stein dem Vater nicht mehr bringen', hauchte er. 'Ich war leichtsinnig. Bringe du ihn ...' Dann starb er in den Armen seines Bruders Heinrich. Als sich Heinrich aufrichtete, traf ihn eine schwere Keule und er stürzte tot zur Erde.

Dem dritten Sohn erging es nicht so schlecht, obwohl auch er ein abenteuerlustiger Geselle war. Er lebte bescheiden und gewissenhaft, hatte Erfolg. Doch plötzlich war es vorbei mit seinem Glück. Er konnte anfassen, was er wollte, es mißlang. Bald kam er in Schulden, und mit der Zeit wußte er weder ein noch aus, die Schulden wuchsen ihm über den Kopf. Eines Tages kam sein Schuldner zu ihm und machte ihm ein verlockendes Angebot:

'Ihr habt doch einen Stein', so sagte er, 'von gar unschätzbarem Wert. Gebt mir diesen Stein und alle eure Schulden sind erlassen!'

'Ein gar lächerlicher Tausch', lachte da der Junge.

'Nun gut', so verkauft mir ihn, ich will nicht wenig bezahlen, und alle Sorgen werdet Ihr los!'

Da antwortete der Junge: 'Ich kann nicht verkaufen, was mir nicht gehört. Geht nur fort, Ihr bekommt Euer Geld!'

Er begann hart zu arbeiten, und schon bald wendete sich das Blatt, und er konnte alle seine Schulden bezahlen und lebte in Glück und Zufriedenheit weiter. Er bewahrte das anvertraute Gut, setzte es niemals in seiner Abenteuerlust auf 's Spiel. Kannst du dir vorstelen, wie es ihm ergehen wird, wenn er eines Tages zurückkehrt und vor seinem Vater steht?"

Die Sonne war schon untergegangen. Der Alte stand auf und machte ein Feuer. Der Junge starrte in die Flammen, und sagte dann: "Ich danke Euch, Schäfer. Ihr habt Recht. Das Leben ist ein kostbarer Stein, und wir können nichts verschenken, was uns nicht gehört. Drum werde ich Euren Rat befolgen." Er sagte Lebewohl und eilte nach Hause. Der Alte aber ging zu seinen Schafen und fuhr lächelnd über ihre Köpfe.

© 1970 johannes stephan wrobel - stephan castellio

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